Die gekreuzigte Liebe / TWV 5:4

Passionsoratorium von G. Ph. Telemann (1681 – 1767)

Anders als in anderen Ländern, insbesondere Deutschland, wo mit mehreren Telemann-Gesellschaften seit einigen Jahren das reiche Kompositionsschaffen Telemanns gründlich erforscht, kritisch editiert, in Konzerten aufgeführt und auf Tonträgern festgehalten wird, steht in der Schweiz die Musik Telemanns, insbesondere die vokale Kirchenmusik (liturgisch oder konzertant), noch wenig bis gar nicht auf den Programmen von Barockmusik singenden und spielenden Chören und Instrumentalensembles. Dies zu ändern, hat sich die 2015 gegründete Telemann-Gesellschaft Schweiz auf ihre Fahne geschrieben. Seither ist bereits einiges geschehen: So werden zum Beispiel seit der Gründung der Telemann-Gesellschaft Schweiz im Schnitt alle zwei Jahre ein Passionsoratorium Telemanns (i. e. eine Leidensgeschichte, für die nicht mehr ausschliesslich der biblische Text die Basis bildet) aufgeführt, dabei musikwissenschaftlich begleitet und auf Tonträger gespeichert. Von den 5 Passionsoratorien Telemanns hat die Telemann-Gesellschaft Schweiz 2015 «Das selige Erwägen» und 2017, im grossen Telemann-Jahr, «Den Tod Jesu» in ihr Programm aufgenommen.

2019 wenden wir uns «Der gekreuzigten Liebe» zu, einem Passionsoratorium aus der mittleren Schaffensphase Telemanns (zum Zeitpunkt der Erstaufführung 1731 in Hamburg war Telemann 50 Jahre alt).

Das Libretto stammt von Johann Ulrich König (1688-1744), einem der am meisten gefeierten deutschsprachigen Poeten seiner Zeit. König lebte zwischen 1710 und 1716 in Hamburg, und obwohl er ab 1720 als geheimer Staatssekretär und Hofdichter August des Starken in Dresden wirkte, rissen die Kontakte zu Hamburg nicht ab. Neben Telemann belieferte er mit seinen Texten auch Reinhard Keiser (1674-1739) und andere bekannte Komponisten von geistlichen Werken.

Im ersten Teil der Passion richtet sich der Blick auf die Verfehlungen der Menschen, also auf die Gründe für Jesu Leidensweg und Tod am Kreuz, besonders stark zu sehen in den Rezitativen und Arien von Petrus, der, zerknirscht über seine Sünde der Verleugnung, an dieser Tat beinahe verzweifelt und sich in Selbstvorwürfen ergeht. Eingerahmt wird dieser Abschnitt von zwei für Telemann und seine Zeit typischen allegorischen Figuren, der andächtigen und der gläubigen Seele, die – aus einer gewissen Distanz – beobachten und kommentieren.

Zwei Chöre (Nr. 20 und Nr. 41) umschliessen den zweiten Teil, in dem die Kreuzigung Christi dominiert. Jesus selbst und die beiden allegorischen Figuren sehen darin eine Heilstat aus Liebe zu den Menschen, während sich historische Personen aus dem direkten Umfeld Jesu auf unterschiedlichste Weise zu den Geschehnissen äussern.

Johann Ulrich Königs Libretto ist reich an Metaphern, Reizwörtern, mitunter auch an drastischen Bildern und provokanten Aussagen. All das veranlasste Telemann zu einer sensiblen, dem Text eng nachempfundenen Musik, deren Eindringlichkeit sich auch die heutigen Konzertbesucher nicht entziehen können. Ein Werk, das spannend ist und nahegeht.

Roland Fitzlaff